U-Bahn Blicke (111)

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Der Blick auf sein Gegenüber in der Straßenbahn gleitet wie beiläufig am Antlitz vorrüber. Die Augen sehen fast durch den Menschen hindurch. Kreuzen sich einmal die Blicke, so folgt ein hastiges Wegsehen. Was bleibt, ist ein kurzer Eindruck des Menschen gegenüber und ein Gefühl der Unnatürlichkeit einer Reaktion auf eine Situation, die lieber peinlichst vermieden wird. Es ist nicht vorgesehen, in der Berliner U-Bahn Sichtkontakt mit einem Mitreisenden aufzunehmen. Die Anonymität der informellen Zusammenkunft ist einzuhalten. Man sieht ins Nichts oder auf einen der eigens deswegen angebrachten, tonlosen Bildschirme, über die die neuen Nachrichten in Schlagzeilen flimmern.

Sehr interessant ist der Moment, wenn die U-Bahn ihrem Namen die verdiente Ehre erweist und plötzlich in den Untergrund abtaucht. Die Seitenscheiben der Waggons werden unvermittelt zu riesigen Spiegeln, in die die Reisenden schauen könnten und es auch tun. Und dann geschieht es. Gänzlich ungestraft die Spiegelbilder der vor ihnen sitzenden Menschen ansehen zu können, diese niemals festgeschriebene, stillschweigend hingenommene Übereinkunft zwischen den betrachtenden und betrachteten U-Bahn-Reisenden in Berlin, wie auch in London und vermutlich überall anderswo in der Welt, gestattet den Schauenden die Menschen dann doch anzusehen. Seine Mitmenschen ansehen, Blicke, die sogar für einen Augenblick oder zwei verweilen dürfen, währenddessen sich die Blicke sogar treffen und erwidert werden können.

Wir können für uns selbst ergründen, warum uns das Gesicht unseres Nachbarn auf der Bank gegenüber eine solche Anziehungskraft und Ausdrucksstärke entgegenwirft.

In der U-Bahn sitzend, wohlwissend, dass die Fahrt nur eine sehr begrenzte Dauer einnimmt, bleibt uns nur diese Zeit, auf unseren Sitznachbarn zu reagieren. Die Schnittmenge der gemeinsamen Fahrtzeit in der Bahn ist oft noch kleiner. Während der gemeinsamen Reise können wir versuchen die Erkenntnis über die Emotionen zu gewinnen, die das Gesicht des Gegenüber in uns hervorruft. Diese Spanne ist schon so viel mehr, als die Zeit, die uns beispielsweise bei der Begegnung von hastenden Menschen in der durchwühlten Fußgängerzone der Altstadt bleibt.

Wir sitzen oder stehen in der Bahn, bewegen uns trotz totalem Stillstand des eigenen Körpers mit enormer Geschwindigkeit vorwärts, meist gerichtet in die „richtige“ Richtung. Dabei haben wir Zeit. ÜBRIG!

Wir haben die Zeit zu Schauen; neben der Zeit zum Lesen, zum Schlafen zum Dösen, zum Träumen. Und zum – ja doch- Bedienen unseres Smartphones. Das kostet Zeit. Das bringt uns schnell ins Soll unseres Zeitkontos, denn dafür ist die Fahrt mit der Bahn stets zu kurz. Das Abarbeiten der Punkte unserer ToDoList auf dem Phone nähme viel mehr Zeit in Anspruch, als die Fahrt dauert. Wir schicken SMS, eMails, MMS, posten, twittern, spielen, was das Zeug hält. Die Umgebung, wie verwandelt, auch „fremde Welt da draußen“ genannt, müssen wir in der U-Bahn aushalten. Scheinbar wird sie zunehmend fremder. Wir trennen uns dann gerne davon, wenn wir ein Smartphone hervor nehmen, und durch Starren und Wischen der Wirklichkeit entgleiten können.

Wenn wir aber das Phone am Abend nicht in die Ladeschale gestellt haben, nicht unseren Ersatzakku dabei haben und auch dummerweise den Reserveakku des Ersatzakkus in der anderen Jacke haben, dann wird es wieder verzweifelter Ernst. Wir haben wieder Zeit.

Vielleicht schauen wir dann doch mal wieder hin. Zu den Dingen und Menschen, zu den Häusern und Bäumen, zu den Autos und der Reklame. Auf den Bildern der Reklame sehen wir andere Menschen. Menschen, die so ganz anders aussehen, als jene vor uns auf der anderen Seite der Sitzreihe der U-Bahn. Diese auf dem Plakat lächeln beständig. Jene eher selten bis gar nicht. Bei Diesen liegt es natürlich am Produkt, mit dem sie auf dem Foto sein dürfen, welches uns alle Träume erfüllt, das suggeriert uns diese Werbung. Besonders Träume, von denen wir selber noch nicht gewußt haben, dass sie überhaupt existieren. Bei Jenen in der Bahn liegt es vielleicht am bevorstehenden Arbeitstag, an der bevorstehenden Aufgabe, an der alltäglichen Sorge des Lebens. Oder es ist schlichtweg der entspannte Moment der Fahrt von A nach B über C.

 

Ursprünglich veröffentlicht am 25.Oktober 2013

3 Gedanken zu “U-Bahn Blicke (111)

  1. Also im Kölner Nahverkehr gibt es das Phänomen auch – ich fahre jeden tag mit der Bahn zur Arbeit ^^ Ich habe mich auch schon oft selbst dabei ertappt, dass dieses länger als 2 Sekunden ansehen mir unangenehm ist – warum, kann ich dir nicht sagen. Jemandem tief in die Augen zu blicken, hat vielleicht auch was mit Nähe zu tun, denn in den Augen kann die Seele des anderen erblicken. Und wer möchte Fremden so nah sein? Die meisten wohl eher nicht. Das Smartphone bzw. Musik nutze ich auch, um ganz bewusst von dem Lärm, dem Geplärre, dem Kaugummi kauen etc. abzuschalten, weil es mich schlichtweg nervt und ich gerne vor mich hin träume während ich Musik höre.

    Allerdings habe ich das Gefühl, dass Bahnen und Busse und Züge etc. immer voller werden, immer mehr Menschen strömen und drängen unaufhaltsam in die Verkehrsmittel. In meiner Kindheit war es anders, da gab es noch keinen derartig hohen Menschenandrang in Bussen und Bahnen…vielleicht hängt das auch mit der steigenden Bevölkerungszahl zusammen, es gibt immer mehr Menschen. Mein Eindruck ist, dass durch die Masse der Menschen immer mehr Entfremdung entsteht, man bewegt sich anonym und schnell in der Masse.

    Dennoch habe ich auch schon einige interessante Begegnungen und nette Gespräche mit Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln geführt, das kommt auch vor 🙂 Manchmal erwischt man sich auf dem richtigen Fuß und eine Unterhaltung entsteht. Ein Augenblick, in dem man merkt, dass Menschen doch ganz nett sein können…

    Alles in allem ist die U-Bahn ein Abenteuer…mal nervenaufreibend, mal interessant und Horizont-erweiternd.

    LG

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    • Danke Dir für Deinen ausführlichen Kommentar. Ich möchte Dir gerne antworten. Ja, die Nähe halte ich auch für sehr privat, zumal wir erwachsenen Menschen fast immer eine negative Bewertung in längeren Blicken befürchten, ganz anders als Kinder. Einen Walkman (=rel. handliches Gerät mit Kopfhörern, auf dem Musik über Kopfhörer abgespielt werden kann) hatte ich auch manches Mal in meiner Jugend in der Bahn dabei.
      Widersprechen möchte ich Dir allerdings in Deiner Annahme der steigenden Bevölkerungszahlen. Hier ist das Stichwort „Landflucht“. Die von Dir beschriebene Folge halte ich wiederum für nachvollziehbar, eine Entfremdung durch viele Faktoren, auch Mediennutzung, 😉 stelle ich gleichwohl fest. Und auch Deine letzte Einschätzung teile ich. Manchmal kommt man mit einem Menschen ins Gespräch, und es stellt sich eine kurzfristige Seelenverwandtschaft ein. War immer schön.
      Ich meine, es wird immer mehr getwittert, gepostet, und wer weiß was, bei unserem Jogaabend können wir als kleine ( 4-7) Gruppe oft nur schwer vom Gespräch lösen, um mit Joga zu beginnen.
      Sprechen über Sinn und Unsinn ist fantastisch.
      Ganz liebe Grüße Mies

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      • Hallo Mies,

        den Walkman kenne ich auch noch, ich hatte sogar den Nachfolger, den Discman 😀

        Das mit der größeren Menschenmassen kann ich nicht wissenschaftlich belegen, vielleicht ist es viel mehr eine subjektive Wahrnehmung….jedenfalls habe ich jüngeren Jahren überfüllte Verkehrsmittel nicht so bewusst wahrgenommen. Heute lasse ich sogar Bahnen aus, wenn sie mir zu voll erscheinen ^^

        Da stimme ich dir voll und ganz zu, über Sinn und Unsinn des Lebens zu reden kann mitunter sehr erfrischend sein =)

        Lg

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